MEDEA – im Rahmen von medeamorphosen
Kammeroper nach Christa Wolf: „Medea.Stimmen“ (1996)
von Frank Schwemmer (2007)28.10. UA| 01. und 02.11.2007 Berlin, Radialsystem VSzene Maren Strack | Irene Suhr
Musikalische Leitung Olof BomanGesa Hoppe– Medea
Vocalconsort Berlin
Matthias Jahrmärker – Jason
Sophie Klußmann – Glauke
Dorothe Ingenfeld – Agameda
Friedemann Büttner – Leukon
Klaus-Martin Bresgott – Akamas
musikFabrik
»Wir leben verkehrt«Von Evelyn Finger
Manchmal wird ein Schriftsteller von seinen Büchern eingeholt. Dann taucht das fast Vergessene plötzlich auf, bemächtigt sich der Zeitgeist eines alten Textes. 1996 veröffentlichte Christa Wolf ihren Roman Medea Stimmen die bislang radikalste Korrektur des Mythos. Bis dahin galt Medea als blutrünstige Furie, die von dem Argonauten Jason betrogen wird und aus Rache die gemeinsamen Kinder sowie ihre Nebenbuhlerin tötet. Bei Christa Wolf ist sie nicht Kindsmörderin, sondern Opfer von Verleumdung, ist Rebellin gegen Patriarchenwillkür, Mütterduldsamkeit, Unterwerfungspflicht.
»Warum ich?«, hat die Schriftstellerin gefragt, als wir sie um ein Interview baten. Sie denke momentan über völlig anderes nach! Nun gut: ein kleines Treffen in Anwesenheit der beiden Kammeropernmacher Klaus-Martin Bresgott (Produktion, Libretto) und Frank Schwemmer (Komposition, Libretto).
Wir sind in Christa Wolfs Berliner Wohnung eingeladen. Draußen die Oktobersonne, drinnen die Bücher. Flüchtig blättert sie im druckfrischen Libretto, das sie noch nicht gelesen hat. Auch in die Proben mischt sie sich nicht ein, stattdessen antwortet sie nun doch ausführlich.
DIE ZEIT: Frau Wolf, waren Sie überrascht, als vor einem halben Jahr Herr Bresgott mit der Idee kam, Ihren Roman zu vertonen?
Christa Wolf: Eher neugierig. Wie würden Jüngere heute diesen Stoff sehen? Ich selbst bin nicht scharf darauf, mich noch einmal mit Medea zu befassen, nachdem mein Mann und ich 2002 schon das Libretto für ein Oratorium Georg Katzers verfasst haben. Was man am meisten behält, ist ja, was man mit einem Buch wollte.
ZEIT: Nämlich?
Wolf: Mein Schreibmotiv für Medea war, wie schon bei Kassandra, die Frage nach den selbstzerstörerischen Tendenzen unserer abendländischen Zivilisation die umso verhängnisvoller werden, je mehr wir unsere Vernichtungswaffen vervollkommnen.
ZEIT: Ihre Medea flieht nicht der Liebe wegen aus ihrer Heimat. Sie folgt Jason aus dem düsteren Kolchis ins reiche Korinth, weil ihr Vater Aietes ihren Bruder Absyrtos abschlachten ließ, um seine Macht als König zu sichern. Leider erweist sich auch Korinth als repressive, selbstzerstörerische Ordnung. Weil Medea sich nicht einfügt, wird sie geächtet.
Wolf: Eben dieses sich in der Geschichte wiederholende Muster mag das auffällige Interesse an dem Stoff in der Gegenwart hervorrufen. Wenn unsere Kultur in Krisen gerät, fällt sie immer wieder auf das gleiche Verhalten zurück: die Schuld bei Außenseitern suchen, diese ausgrenzen, sie zu Sündenböcken stempeln. Ich hatte mich ja schon in den achtziger Jahren mit dem Mythos beschäftigt, als zu beiden Seiten der deutsch-deutschen Grenze Atomraketen aufgestellt wurden und die Auslöschung Europas in den Planstäben der Großmächte durchexerziert wurde. In der sogenannten Wendezeit, 1990/91, trieb eine aktuelle Erfahrung mir die Medea-Figur zu: dass nämlich das neue Deutschland, noch stark westdeutsch geprägt, vieles, was aus dem Osten kam, als fremd empfand und stark ablehnte. Ich habe das ganz persönlich erlebt.
Für mich wäre die größte Errungenschaft unserer Zivilisation nicht das neueste Raumschiff, sondern die Lösung von dem Zwang, Sündenböcke zu opfern: ein Fortschritt in der Humanität, nicht in der Technik.
ZEIT: Medea, im Gegensatz zu Kassandra, überlebt. Warum triumphiert sie nicht?
Wolf: Dazu hat sie keinen Grund. Sie ist isoliert, im Elend, sie erfährt, dass ihre Kinder tot sind. Allerdings hat sie sie nicht umgebracht, wie die Überlieferung seit Euripides es wissen will. Mir war von Anfang an klar, dass sie ihre Kinder nicht umgebracht haben konnte, weil zu Medeas Zeiten die Erinnerung an matriarchale Strukturen noch nachwirkte, in denen Kinder das kostbarste Gut waren.
Sie verflucht die Machthaber in Korinth. Manche Leserinnen haben mir vorgehalten: Man müsse doch auch verzeihen können. Mir ging es aber darum, zu zeigen, dass es Untaten gibt, die man nicht verzeihen kann und nicht verzeihen darf.
ZEIT: Den treulosen Jason verflucht Medea nicht.
Wolf: Sie ist ja keine verlassene Kleinbürgerin, die sich aus Eifersucht an dem Geliebten rächen muss. Jason war in den frühen Mythen auch ein Heiler, der dann zu einem Heros wird, dem Anführer der Argonauten. Er ist zu schwach, um sich dem Anpassungsdruck in Korinth zu widersetzen. Ihm gegenüber empfindet Medea keinen Hass, eher Mitleid und Trauer.
ZEIT: Medea ist in der Reihe Ihrer Frauenfiguren die stärkste: unabhängiger als Kassandra, entschiedener als Christa T., selbstsicherer als die Günderrode. Was findet sie an dem schwachen Jason, dass sie ausgerechnet mit ihm Kolchis verlässt?
Wolf: Als er mit seinen Argonauten in Kolchis landet, ist er nicht der »schwache Jason«, sondern ein Mann, den zu lieben eine Frau wie Medea sich entschließen kann. Und sie verlässt ihre Heimat zwar mit ihm, aber nicht seinetwegen: Sie möchte nicht, sie muss, weil ihr Land sich zur Unkenntlichkeit verändert. Diese Wunde wird nie heilen. Auch da sah ich aktuelle Bezüge. Jede meiner Arbeiten ist aus einem Konflikt heraus entstanden. Ich empfand es damals als entlastend, mich mit dem Medea-Stoff zu beschäftigen übrigens zum Teil in Kalifornien, ich lebte neun Monate in Santa Monica.
ZEIT: Was haben Sie in den USA der neunziger Jahre über Ihr Bleiben in der DDR gelernt?
Wolf: Dazu brauchte ich die USA nicht. Dass Menschen aus der DDR weggingen, habe ich lange vorher verstanden. Dass ich schließlich blieb, war das Ergebnis langer Überlegungen und eines direkten Entschlusses, wofür ich die Gründe aufzählen könnte. Im Herbst 89 war ich dann froh, dass ich geblieben war und die Volkserhebung, die manche eine Revolution nennen, miterleben konnte.
ZEIT: Kann, wer unfreiwillig seine Heimat verlässt, anderswo heimisch werden?
Wolf: Da fragen Sie mal die Heere der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen am Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Jüngeren haben sich meistens in einer neuen Umgebung eingelebt, Heimatgefühle entwickelt. Je älter man ist, umso schwerer fällt es, woanders Wurzeln zu schlagen. Ich beschäftige mich gerade mit den deutschen Emigranten während der Nazizeit in den USA. Ich erfahre aus vielen Zeugnissen, wie tief und nachhaltig der Heimatverlust in diesem Falle der Verlust Deutschlands sie verstört hat. Um auf Medea zurückzukommen: Sie wäre wohl in Korinth nicht so fremd geblieben, wenn man sie dort gebraucht hätte.
ZEIT: Werden auch Sie nicht mehr gebraucht?
Wolf: Das kann man doch nicht vergleichen. Ich habe ja eine Arbeit, für deren Ergebnisse ein Interesse da ist. Und ich habe das Glück, dass ich in einem Umfeld lebe, eigentlich in zwei Umfeldern, die mir vertraut sind, so vieles sich auch da in den letzten anderthalb Jahrzehnten verändert hat: die Umgebung in Pankow und das alte Pfarrhaus in einem Dorf in Mecklenburg. Zu beiden Orten habe ich ein Heimatgefühl entwickelt, und da sind auch Menschen, mit denen ich in lebendigem Kontakt bin, die mir nahe sind, die mich etwas angehen.
ZEIT: Immerhin ist die Mauer weg, die Diktatur. Wie fühlen Sie sich hier und heute als politisch denkender Mensch?
Wolf: Es kann nicht mehr darum gehen, mich mit einem politischen System zu identifizieren, aber Politik interessiert mich weiterhin, soweit sie das Schicksal von uns allen beeinflusst. Manchmal sage ich ein Wort, das mich schon in der DDR begleitet hat: Wir leben verkehrt.
Was treibt uns dazu, die Erde, unseren Lebensraum zu zerstören? Unser unstillbarer Hang in der westlichen Welt nach immer mehr Reichtum und Wohlleben durch Konsum: Was hindert die Politik, diesem Hang Grenzen zu setzen? Die Unsicherheit, dann abgewählt zu werden? Die demokratisch gewählten Regierungen können sich nicht durchsetzen gegenüber Weltkonzernen, die nur nach den Gesetzen von Macht und steigender Gewinnrate strukturiert sind. Sie merken: Ich mache mir um die Zukunft große Sorgen.
Christa Wolf lehnt sich zurück und sagt, jetzt brauche sie einen Tee.
Ihr Ehemann, der Schriftsteller und Verleger Gerhard Wolf, bringt eine neue Kanne. Herr Bresgott schenkt nach. Sie ist jetzt 78 Jahre alt, sie ist die angesehenste deutsche Schriftstellerin der Gegenwart, aber keineswegs eine Patriarchin. Sie interessiert sich tatsächlich für die Meinung ihrer Besucher. Klaus-Martin Bresgott sagt, dass Jasons nie nachlassender Kleinmut uns alle angehe, weil wir ihn von uns selbst kennen. Frank Schwemmer erklärt, warum Medeas Entdeckung der heimlichen Menschenopfer in Kolchis und Korinth die Herrschenden so maßlos erzürne: weil sie selbst an der Rechtmäßigkeit dieser Schlachtungen zweifeln.
Wolf: Diese Motive ziehen sich durch unsere ganze Geschichte, sie bewegen offenbar auch Jüngere.
ZEIT: Glauben Sie, dass die Schwäche der Korinther im Bewusstsein moralischer Verfehlung besteht?
Wolf: Nein. Die moralische Verfehlung ist selbst schon ein Zeichen von Schwäche. Das Opfer der Königstochter Iphinoe soll angeblich die Korinther aus einer Bedrohung retten. Dann verheimlichen sie dieses Opfer aber und reißen immer neue Schwachstellen auf. Dafür lassen sich in der Geschichte viele Beispiele finden.
ZEIT: Die siebziger, achtziger Jahre waren in der DDR-Literatur eine große Zeit der Mythenaneignung. Heiner Müller nannte den Mythos »eine Maschine, an die immer neue Maschinen angeschlossen werden können«.
Für Franz Fühmann diente der Mythos dazu, »individuelle Erfahrung an Menschheitserfahrung zu messen«. Und für Sie?
Wolf: Die Assoziation zu einer Maschine käme mir nicht. Fühmann übrigens war ein wunderbarer Arbeiter am Mythos. Ich sah im Mythos, der unsere Grundwidersprüche und Konflikte, Leidenschaften und Verfehlungen aufzeichnet, unübertreffliche Modelle. Bei der Arbeit am Mythos entsteht ein beinahe ehrfürchtiges Gefühl von Zeittiefe: Wie die frühen Menschen sich die Welt erklärten, woran sie glaubten, um überleben zu können. Das hatte nichts mit Sklavensprache zu tun, wie Kritiker vermuteten: Wir haben uns in unserer Stoffwahl den Tabus nicht unterworfen. Bei Medea faszinierten mich besonders die Spuren, die der Jahrhunderte währende Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat in diesem Mythos hinterlassen hat. In der frühesten Frühzeit gab es ja nur weibliche Gottheiten, Fruchtbarkeitsgöttinnen, Erdgöttinnen. Auch Medea war einmal eine Göttin, dann wurde sie zur Heilerin, zur Guten-Rat-Wissenden, zur Königstochter.
ZEIT: Sie haben über Medea einmal gesagt, sie stehe auf der Grenze zwischen zwei Wertesystemen. Und die Sieger der Geschichte seien immer unfähig, die Ideale der Unterlegenen anzuerkennen.
Wolf: Patriarchale Deutungen haben ja diese Frauenfigur in ihr Gegenteil verkehrt, allerdings mit der wilden, der bösen Frau eine große Figur geschaffen, die auf der Bühne die Jahrhunderte überdauert.
Ich habe das Drama des Euripides immer bewundert – aber für ihn ist Medea die Barbarin aus dem Osten. Ich war sehr froh, als eine Baseler Archäologin, die den Medea-Sarkophag betreute, den Beweis erbrachte, dass frühe Überlieferungen Medea nicht als Kindsmörderin sahen. Erst im Zuge des Patriarchats wurde sie dämonisiert, aus Angst vor der Frau, die Leben geben kann. Wie sagt doch Jason bei Euripides: »Gäb es andere Geburt, ganz ohne Frau, wie glücklich wäre das Leben.« Diese Angst liegt am Grunde unserer Gesellschaft. Sie prägt die heutige Welt, die eine Männerwelt ist auch wenn immer mehr Frauen mitherrschen.
Jetzt wird es feministisch. Christa Wolf macht eine kleine Atempause, damit die anwesenden Herren widersprechen können. Sie stimmen jedoch zu. Schwemmer sagt, es gebe nun mal Grenzen männlicher Selbstbestimmung, weil der Mann nicht ohne die Frau auskomme. Bresgott sagt, Medea erscheine noch durch etwas anderes bedrohlich, etwas Instinkthaftes, ein Zusammenwirken von Gefühl und Verstand gegen die verkopften Vertreter der Macht. Sie heißen Kreon, Akamas, Turon und sind Exekutoren derselben instrumentellen Vernunft.
Wolf: In Goethes Faust gibt es ja eine Stelle, wo Mephisto den Faust, um den Schlüssel für die Herbeizitierung Helenas zu holen, zu den »Müttern« schickt. Und Goethe schildert eindrucksvoll den Schauder, der den Faust bei diesem Wort ergreift.
ZEIT: Zurück zu den Müttern, soll das heißen: zurück ins Matriarchat?
Wolf: Nein, derartige Fantasien sind ja reaktionär. Wir müssen im Gegenteil darüber nachdenken, was es heute heißt, vorwärts zu gehen.
Es gibt ja verschiedene Gruppen, deren Angehörige nach Alternativen zu den heutigen Verhältnissen fragen: »Eine andere Welt ist möglich«, hören wir, und das klingt schon gut. Nur ist die Macht der militärischen und wirtschaftlichen Kartelle durch moralische Appelle nicht zu erschüttern. Ich fürchte, die kleineren Katastrophen, deren Zeugen wir schon sind, müssen ein Umdenken erzwingen, damit große Gruppen von Menschen bereit sind, ihre Lebensweise zu ändern.
ZEIT: Es genügt aber nicht, als Einzelner das System zu boykottieren.
Ihre Kassandra entzieht sich ja dem sinnlosen Krieg um Troja durch Flucht in ein Refugium jenseits der Stadt. Und was geschieht? Die kriegerischen Männer holen die friedlichen Frauen ein, vergewaltigen und töten sie. Wäre es nicht besser gewesen, erst die Männer umzubringen? Das ist doch die machtpolitische Frage, an der Medea scheitert: Wie bekämpfe ich den Krieg, ohne ihm anheimzufallen?
Wolf: Ohne dieselben Mittel zu verwenden? Ich glaube, die Frage ist nicht so allgemein zu beantworten: Jede Generation muss, auf ihre Verhältnisse bezogen, ihre Mittel entwickeln. Mir scheint, das geschieht jetzt in immer mehr Gruppen und Zirkeln, darunter auch bei vielen Frauen, die sich ja übrigens als Wissenschaftlerinnen, Ärztinnen, Richterinnen, Politikerinnen Tätigkeitsfelder eröffnet haben, an die noch vor fünfzig Jahren nicht zu denken war. Sie gehen in Strukturen hinein, die auf Männer zugeschnitten waren. Ob das die Strukturen von innen her verändert? Mir scheint, je höher sie aufsteigen in der Welt der Männer, umso mehr Anpassung wird ihnen abverlangt.
ZEIT: Sie selbst haben sich als Schriftstellerin unter Schriftstellern ganz gut durchgesetzt.
Wolf: Ich könnte Ihnen Artikel zeigen, die so gegen einen Mann nicht geschrieben worden wären. Und wenn man schreibt, kann man sich ja nicht anpassen, das würde die Grundlage des Schreibens zerstören.
ZEIT: Haben Sie manchmal typisch weibliches Verhalten (falls es das gibt) vermieden und sich den Männern angepasst, um zum Ziel zu gelangen?
Wolf: Interessante Frage. In der ersten Zeit wurde ich in der DDR oft gebraucht, wenn in einem Gremium lauter Männer saßen. Dann hieß es: Da fehlt uns aber noch eine Frau! In meiner Generation waren da nicht so viele. So kam ich manchmal in die Rolle einer, wie man heute sagen würde: Quotenfrau. Das Positive war, dass wir, unsere Generation, Männer und Frauen, früh Verantwortung übernehmen konnten und mussten.
Und da hörte das Rollenspiel bei mir auf, da kam es meist bald zu Widerspruch und Konflikten. Aber nun lassen Sie mal die beiden Männer was sagen.
Christa Wolf möchte den weiblichen Herrschaftsdiskurs nun endgültig beenden und bringt ein anderes Gespräch in Gang. Es geht ums Musikalische, um Arien, Duette, Chöre. Der Komponist sagt, ihn habe die vielschichtige Wolfsche Medea im Vergleich zu der eindimensionalen des Euripides begeistert. Schwemmers Medea ist eine Literaturoper in sieben Szenen für sechs Sänger und vier Musiker. Christa Wolf fragt anhand der Partitur nach Einzelheiten. Man plaudert über Sasha Waltz Medea, die alle gesehen haben. Dann über Aktuelles: Eva Hermans Rauswurf aus der Kerner-Show, Probleme der Gleichberechtigung, Krippenplätze. Bresgott sagt, er wisse, wovon er rede, er habe fünf Kinder, seine Frau sei berufstätig. Christa Wolf, die selbst zwei Töchter hat, fragt besorgt, wie das gehe.
ZEIT: Ich würde gern noch einmal auf den Mythos zurückkommen. Hat es Sie nie gereizt, über eine heroische Männergestalt der griechischen Antike zu schreiben?
Wolf: Nein. Wer sollte das sein?
ZEIT: Prometheus vielleicht.
Wolf: Wenn schon, dann Sisyphos!
ZEIT: Eine klassische Verliererfigur.
Wolf: Wirklich? Könnte man Sisyphos nicht auch als den Mann sehen, der den Stein beharrlich immer wieder hinaufwuchtet und ihn so hindert, endgültig hinunter zu rollen?
ZEIT: Heiner Müller hat in Hamletmaschine geschrieben, es sei gut, eine Frau zu sein und kein Sieger. Sehen Sie das auch so?
Wolf: Heiner Müller beschreibt in diesem Satz in knapper Form das Desaster des Siegens für den Sieger. In dieser Konstellation allerdings ist es auch nicht gut, eine Frau zu sein, da ist sie meist die Besiegte. Gut wäre es, wenn Männlichkeit sich nicht in Kategorien von Sieg und Niederlage messen würde, und es gibt ja immer Männer, die sich nicht in eine heroische Rolle hineinträumen müssen. Die Kriege allerdings, in die wir verwickelt sind, werden von Männern gemacht, die siegen wollen.
Das Gespräch führte Evelyn finger